Podcast: Bücher im Gespräch
Erschienen: 20.03.2024
Dauer: 00:36:19
Matthias Schwartz (ZfL) und Clemens Günther (FU Berlin) sprechen über den Band »Documentary Aesthetics in the Long 1960s in Eastern Europe and Beyond« (Brill 2024). Sie betrachten literarische Formen wie Memoiren, Gerichtsprotokolle und Reiseberichte, aber auch das dokumentarische Theater, neue Spielarten des Dokumentarfilms und Konzeptkunst in Ost- und Westeuropa sowie den USA. ———————— Während in unserem ›postfaktischen‹ Zeitalter radikale Skepsis gegenüber den (sozialen) Medien herrscht, begeisterten sich in den 1960ern viele für die von neuen technischen Geräten wie der Handkamera gebotenen Möglichkeiten, die ›Wahrheit‹ einzufangen. In den Staaten Osteuropas stellten dokumentarische Schreibformen einen Bruch mit den totalisierenden Tendenzen des sozialistischen Realismus dar und erlaubten es, Zeugnis von der stalinistischen Gewaltherrschaft abzulegen, wie es Warlam Schalamow in seinen Aufzeichnungen aus dem Gulag tat. Zeitgleich fand Peter Weiss mit seinem dokumentarischen Theater in Westdeutschland Wege zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Anders als häufig angenommen nahmen Künstler*innen in den sozialistischen Staaten regen Anteil an der globalen künstlerischen Entwicklung. Unter den Bedingungen des Tauwetters wurden Werke von Truman Capote, Weiss und anderen westlichen Schriftsteller*innen ins Polnische, Russische oder Tschechische übersetzt und die gemeinsame künstlerische Praxis reflektiert. Im Gegensatz zum Dokumentarismus der 1920er Jahre, der als ›literatura fakta‹ oder Neue Sachlichkeit programmatische Gestalt annahm, lassen sich die dokumentarischen Tendenzen der 1960er jedoch auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Während die avantgardistischen Vorläufer ein instrumentelles Verhältnis zum Dokumentarischen als Mittel zur Belehrung des Neuen Menschen pflegten, dominierte in den 1960ern ein Verständnis des Dokuments als Artefakt und Beweis, dem mit kritischer Distanz begegnet wurde. An dieser Ambivalenz des Dokumentarischen, das Objektivität verspricht und gleichzeitig Ergebnis und Mittel der politischen und künstlerischen Arbeit mit Fakten ist, zeigt sich sein Potential, die vermeintlich starre Opposition von Fakt und Fiktion ins Wanken zu bringen. So kommt etwa in den Theaterarbeiten Aleksandra Bruszteins und den Reportagen Ryszard Kapuścińskis allegorischen Erzählweisen dokumentarische Evidenz zu, da sie Möglichkeitsräume zur Verhandlung tabuisierter Aspekte der Gegenwart eröffnen. Die Beschäftigung mit früheren Dokumentarismen macht die komplexen Genealogien heute vielerorts wieder zum Einsatz kommender dokumentarischer Verfahren sichtbar. So erlangt die bereits in den 1960ern diskutierte Frage nach den Möglichkeiten des ästhetischen Ausdrucks und der Intervention in autoritären Regimen in Ländern wie Russland und Belarus derzeit bedrückende Aktualität; so wird sie gegenwärtig beispielsweise in den dokumentarischen Arbeiten Swetlana Alexijewitschs verhandelt. In der zeitgenössischen ukrainischen Kunst sind es hingegen häufig dokumentarische Darstellungsweisen, mit denen traumatische Kriegsereignisse zur Sprache gebracht werden. ———————— Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL. Dort leitet er die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch. Literaturen und Kulturen aus Osteuropa« und »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Der Slawist Clemens Günther ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Dort promovierte er 2019 mit einer Arbeit zu Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur. Er ist Mitglied im DFG-Netzwerk »Russian Ecospheres. Forms of Ecological Knowledge in Russian Literature, Culture and History«. www.zfl-berlin.org
Weitere Informationen und umfangreichere Shownotes gibt es ggf. auf der Podcast-Website.
Podcast-Website: Episode "Episode 19: Dokumentarische Ästhetiken"