Podcast: Bücher im Gespräch
Erschienen: 27.03.2023
Dauer: 00:38:40
Pola Groß und Claude Haas sprechen über die von ihnen mitherausgegebenen Bände »Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur« und »Der Stil der Literaturwissenschaft«. ———————— Wer in der Literaturwissenschaft vom Stil spricht, ist schnell mit dem Vorwurf des Elitismus konfrontiert, denn Stilanalysen stehen unter dem Verdacht, rein werkimmanent und damit realitätsfern zu sein. Dem steht eine anhaltende Beschäftigung mit Stilgemeinschaften und Lebensstilen in der Soziologie gegenüber. In einer ›Gesellschaft der Singularitäten‹, wie sie Andreas Reckwitz beschreibt, gilt der Stil als letzte Form sozialen Zusammenhalts. Als Begriff, der Ästhetik, Handlung und Haltung vereint, erweist sich Stil nicht nur als relevant für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, sondern auch als eine Größe, die eine genauere Verortung von Schreibenden und ihren Texten erlaubt. In »Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur« nehmen Pola Groß und Hanna Hamel die sogenannte postdigitale Literatur in den Blick. In der Nachfolge der Popliteratur verweigern Autoren wie Joshua Groß einfache Identifikationsangebote in Bezug auf Herkunft, Klasse oder Lifestyle. Durch die Verwendung stilistischer Marker wie Glitches stellen sie außerdem ein Bewusstsein für die veränderten Bedingungen des Schreibens nach der Digitalisierung aus. Während die einen Groß & Co. schlechten (Schreib-)Stil attestieren, erkennen andere in ihren Texten eine Sensibilität für die Gegenwart, die im Gegensatz zum gehobenen Stil etwa eines Daniel Kehlmann der postdigitalen Realität gerecht wird. Aber sind Glitches im Text und die Übernahme von Schreibverfahren aus den sozialen Medien bereits subversiv? Oder affirmieren sie nur, was ohnehin schon zirkuliert? Die Autor*innen der Anthologie »Mindstate Malibu« jedenfalls beanspruchen, mit Stilmitteln wie Hyperironie und Überaffirmation das bestehende (Sprach-)System von innen zu sprengen. Und bei der Lektüre von Romanen wie »Flexen in Miami« oder »Eurotrash« ahnen manche Leser*innen gar einen utopischen Überschuss, wo andere nur postironischen Sarkasmus lesen. Auch letzterer wäre stilistischer Ausdruck einer Haltung zur Welt, wie sie – im Sinne einer Lebenseinstellung – jede und jeder einzunehmen gezwungen ist. Besonders deutlich zeigt sich das in den sozialen Medien mit ihrem permanenten Druck, sich ethisch, politisch oder über die Wahl eines Lifestyles verhalten zu müssen. Die Einsicht, dass man dem Stil nicht entkommen kann, ist allerdings alles andere als neu. Schon Adorno konstatierte einen Zwang zum Stil, und Ludwik Flecks Überlegungen zu Denkstil und Denkkollektiven machen deutlich, dass auch in der vermeintlich objektiven Wissenschaft der Sprachgebrauch und die Zugehörigkeit zu bestimmten Stilgemeinschaften maßgeblich mitbestimmen, was und wie gedacht werden kann. Gerade die Literaturwissenschaft bietet sich, wie Claude Haas und Eva Geulen in »Der Stil der Literaturwissenschaft« zeigen, aber noch aus einem anderen Grund für eine stilistische Betrachtung an. Denn deutlicher als in anderen Geisteswissenschaften stellt sich hier die Frage, wie viel vom Stil des untersuchten Werks auf den der Forschenden abfärben darf. ———————— Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß war von 2015–2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln, wo sie 2018 mit einer Arbeit zum ›Glück am Ästhetischen‹ bei Adorno promovierte. Derzeit forscht sie gemeinsam mit dem Germanisten und Komparatisten Claude Haas im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart« am ZfL. Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und arbeitete dort unter anderem in einem Projekt zur »Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik«. Im Wintersemester 2022/23 und Sommersemester 2023 hat er eine Vertretungsprofessur an der Universität Konstanz inne. www.zfl-berlin.org
Weitere Informationen und umfangreichere Shownotes gibt es ggf. auf der Podcast-Website.