Podcast: Bücher im Gespräch
Erschienen: 20.09.2023
Dauer: 00:40:45
Hanna Hamel (ZfL) und Eva Stubenrauch (Humboldt-Universität zu Berlin) unterhalten sich über den Band »Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur« (transcript 2023). Dabei sprechen sie unter anderem darüber, was das Postdigitale ist und welche historischen Vorläufer gegenwärtige Schreibverfahren haben. ———————— Die Gegenwartsliteratur wird häufig aus literatursoziologischer Perspektive untersucht. Richtet man den Fokus hingegen auf ihre Verfahren, können Phänomene erfasst werden, die sich den dominanten praxeologischen Zugriffen entziehen. Welchen Einfluss hat beispielsweise die praktisch-technische Vorentscheidung für das Schreibwerkzeug – Stift oder ChatGPT – auf die ästhetische Form? Hat das Digitale wirklich zu qualitativen Veränderungen im Schreibprozess geführt? Und wenn ja, was zeichnet unsere heutige postdigitale Situation aus? Das Konzept des Postdigitalen stammt ursprünglich aus der elektronischen Musik und beschreibt die Situation nach der Digitalisierung, in der das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat. Aber handelt es sich dabei wirklich um einen radikalen Bruch mit dem Vorhergegangenen? Sicher ist, dass digitale Räume die Literatur vor neue Herausforderungen stellen, wenn beispielsweise über Plattformen wie Twitter Schreibende dem unmittelbaren Feedback durch ihre Leser*innen ausgesetzt sind. In den neuesten Diskussionen um Künstliche Intelligenz und die vermeintliche Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine kehren gleichzeitig totgeglaubte Kategorien wie Autor und Werk in literaturwissenschaftliche und -kritische Diskurse zurück. Unter dem Eindruck dieser Umwälzungen produziert die Literaturwissenschaft immer neue Ordnungsmodelle. Sie unterscheidet zwischen ›artifizieller‹ und ›postartifizieller‹ Literatur (Bajohr) oder solcher, die einer vermeintlich traditionellen Erzählweise verpflichtet bleibt, und solcher, die ihre eigenen Produktionsbedingungen ausstellt. Letzterer wird dabei schnell das Label der ›angemessenen Literatur für das 21. Jahrhundert‹ verpasst. Die Beiträge des Sammelbands hinterfragen vorschnelle normative Setzungen. Sie betrachten bestimmte Verfahren der Gegenwartsliteratur in ihrer historischen Entwicklung und stellen Verbindungen zu Vorläufern wie Schema- und Popliteratur her. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die oft als Merkmal des Postdigitalen hervorgehobene Allianz zwischen Theoretisierung und Praxis der Literatur so neu nicht ist. Vielmehr zeichnen sich schon Literaturphänomene der Moderne wie die Konkrete Poesie oder avantgardistische ›Fehlerpoetiken‹ durch eine Reflexion auf die eigene Textualität und ihre medialen und technischen Einflüsse aus. Metareflexive Tendenzen weist auch ein Genre auf, das selten der ambitionierten Literatur zugerechnet wird: die Fanfiction. Gerade die in Teilen der Community geführten Diskussionen um den Kanon sind jedoch höchst anschlussfähig für literaturwissenschaftliche Debatten. Stellt sich doch mit Blick auf die unendlichen genealogischen Schneisen, die sich in literarischen Texten ausmachen lassen, und ihre intertextuellen Bezüge die Frage, ob nicht die gesamte Literaturgeschichte als Fanfiction zu betrachten ist. ———————— Die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« am ZfL. Von 2017 bis 2019 war sie mit dem Projekt »Klimatologien der beginnenden Moderne« Doktorandin am ZfL. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Stubenrauch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war von 2021–2023 mit dem Projekt »Die Einverleibung der Innovation. Theorie- und Literaturwissenschaftsgeschichte eines Strukturmoments (1870/1970)« wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL. www.zfl-berlin.org
Weitere Informationen und umfangreichere Shownotes gibt es ggf. auf der Podcast-Website.
Podcast-Website: Episode "Episode 17: Postdigitale Literatur"