Feuilleton von unten
Wir diskutieren über das, was uns interessiert: Wie funktioniert Gesellschaft? Was heißt es heute, politisch zu sein? Welches Wissen ordnet unsere Welt? „Feuilleton von unten“ nennen wir das. Das heißt für uns nicht Kulturrundschau und Rezension – Feuilleton verstehen wir als ein öffentliches Nachdenken über Gesellschaft im weitesten Sinne. Dabei versuchen wir, Perspektiven aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zeitdiagnostisch produktiv zu machen.
Wenn wir über Kunst streiten, streiten wir über alles: Wer sind wir? Was ist schön? Was ist gut? Wer hat Ahnung, und wer ist ein ahnungsloser Idiot? Was verdient Steuergelder, und was überlassen wir dem Markt? Wer gehört dazu, und wer muss draußen bleiben? Kein Wunder, dass solche Debatten oft hitzig werden – manchmal sogar tödlich. Unser Gast Johannes Franzen hat diesen Kontroversen ein ganzes Buch gewidmet. Dabei richtet er seinen Blick auf die alltägliche Perspektive des Kunstgenusses, von der Serie bis zur Theaterbühne. Entgegen der These eines allgemeinen Bedeutungsverlustes entdeckt er ein lebendiges, vielfältiges Kulturleben. Kunst erscheint als allgegenwärtiges Gut – und zugleich als gesellschaftliches Streitobjekt von höchster Relevanz. In der Sendung widmen wir uns dem historischen Zusammenhang zwischen modernem Kunstverständnis und dem Statuskampf der bürgerlichen Gesellschaft – einem Kampf, der von Anfang an geprägt war von Disziplinierung, Ausgrenzung und Gewalt. Wir sprechen über die Dynamik und Ambivalenz hochkultureller Leitbilder und die bewährten Strategien kultureller Eliten. Zudem werfen wir einen Blick auf die Rolle der Kulturbildung in der Schule und das alte Ideal der autonomen Kunst mit all seinen Widersprüchen. Kunsterfahrung zeigt sich dabei als durchweg zwiespältiges Phänomen: lustvoll, schön und kontemplativ, aber ebenso schambehaftet, langweilig, fremdbestimmt und voller Argwohn.
Erschienen: 16.12.2024
Dauer: 01:36:19
Weitere Informationen zur Episode "Warum streiten wir über Kunst? – mit Johannes Franzen"
Gewaltige Aufgaben stehen für Deutschland in den kommenden Jahrzehnten an. Investitionen in die Infrastruktur, Verkehr und Bildung, den grünen Umbau der Wirtschaft, die Digitalisierung. Sämtliche Wirtschaftsinstitute, Verbände, auch der IWF sind sich einig, dass Deutschland erheblich mehr investieren muss, um all das zu schaffen. Allein, das Geld ist nicht da. Der Staatshaushalt soll ausgeglichen sein. Die Schuldenbremse muss eingehalten werden. Was steckt hinter dieser Selbstsabotage? Und wie geht es anders? Dem ist Philippa Sigl-Glöckner in ihrem Buch Gutes Geld nachgegangen. Sie ist ist Ökonomin und Gründungsdirektorin des Dezernats Zukunft, einem Thinktank zu Staatsfinanzen. Wir sprechen mit ihr über die historischen Zufälle, die zu den heutigen Schuldenregeln geführt haben und auf obskuren Excel-Tabellen in den Tiefen der EU-Bürokratie ihr Unwesen führen. Schuldenregeln, die festlegen, wie hoch die Arbeitslosigkeit liegen muss und die jede progressive Gestaltung der Gesellschaft im Keim ersticken. Im Gespräch zeigt Sigl-Glöckner auf, wie sich die Staatsfinanzen auch ohne Grundgesetzreform politisch gestalten lassen. Für sie ist Finanzpolitik eine Frage demokratischer Selbstbestimmung.
Erschienen: 14.11.2024
Dauer: 01:17:19
Ob bei Amazon, im Taxigewerbe oder in der Pflege: An vielen Orten ist der Arbeitsmarkt nicht nur in Oben und Unten geteilt, sondern auch danach, wer Migrationsgeschichte hat oder nicht. Manche Branchen funktionieren nur durch Menschen ohne deutschen Pass. Oft sind die Arbeitsbedingungen hier schlecht und der Lohn gering. Und oft bleibt die Arbeit unsichtbar: in abgelegenden Werkshallen, im Dunkel der Nachtschicht oder in der Grauzone des Arbeitsrechts. In der Sendung sprechen wir mit Peter Birke vom Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen. Er untersucht er seit vielen Jahren den Zusammenhang von Arbeit und Migration, insbesondere in der Fleischindustrie und im Versandhandel. Er erklärt uns die komplexe Struktur eines segmentierten Arbeitsmarktes, den historischen Wandel des deutschen Migrationsregimes und die Widersprüche kapitalistischer Verwertungsdynamiken. Birke beschreibt die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Migrant*innen in einem Spannungsfeld von rechtlicher Informalität, komplizierten Anwerbeketten, schwierigem Wohnmarkt und hartem Arbeitsalltag. Widerstand wird auf unterschiedliche Weise geleistet: Manchmal wird im wilden Streik zeitweise die Arbeit verweigert oder sogar innerbetrieblich mehr Lohn ausgehandelt. Sofern man mobil genug ist, kann man zum besser bezahlten Standort weiterziehen. Oft haben die Arbeitenden ein sehr klares Bewusstsein davon, dass sie einen Knochenjob machen. Dieser erscheint ihnen aber innerhalb eigener biografischer Projekte und längerfristiger Ziele als – zeitweise – alternativlos.
Erschienen: 14.10.2024
Dauer: 01:14:51
Weitere Informationen zur Episode "Migrantische Arbeit mit Peter Birke"
Hintergründe für den Rechtsruck in westlichen Ländern gibt es viele: wirtschaftliche Transformation, Ab- wie Zuwanderung, fehlende staatliche Daseinsvorsorge. Hört man rechten Populisten zu, scheint all das aber mit besonderer Bedeutung aufgeladen zu sein. Wirtschaftliche Transformation wird zum Irrsinn einer "grünen Elite". Zuwanderung zum "großen Austausch". Die Regierung zum "Totengräber der Nation". Zwei jüngst erschienene Arbeiten setzen sich mit dieser Sinngebung auseinander: Felix Schilks Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten und Florian Spissingers Gefühlsgemeinschaft der AfD. Schilk analysiert in seiner Arbeit anhand von Zeitschriften die immer wiederkehrenden Grundstrukturen konservativer und rechter Erzählungen. Spissinger untersucht an Stammtischen und an Wahlständen, welches positive emotionale Angebot die AfD ihren Anhängern machen kann. Im Gespräch erkunden wir die unauflöslichen Mehrdeutigkeiten und Widersprüche einer Weltanschauung: mal revolutionär, mal bieder, mal schimpfend, mal zum Wohlfühlen, mal apokalyptisch, mal als Kraft des "gesunden Menschensverstandes" und der "natürlichen Ordnung der Dinge". Schließlich diskutieren wir über den richtigen Umgang mit der Rechten und was wehrhafte Demokratie eigentlich bedeuten soll. Wir lernen, dass es keine Mechanismen gibt, die einen Rechtsruck notwendig machen. Es herrscht – wie so oft – radikale historische Offenheit: Nichts ist neu, nichts ist vorbei, alles ist möglich!
Erschienen: 30.08.2024
Dauer: 01:44:15
Wer wahnsinnig genug ist, sich am politischen Diskurs in den sozialen Medien zu beteiligen, begegnet neuen Formen des politischen Sprechens: Aktivisten, die sich staatstragend äußern, als wären sie Bundespräsidenten, verbeamtete Wissenschaftler, die die Revolutionen fordern oder auch subversive Komiker, die ganz unironisch Werbung für die deutsche Polizei machen. Oder doch ironisch? In der politischen Kommunikation scheinen klassische Differenzen zu verschwimmen: Es verbinden sich Affirmatives und Kritisches, rhetorisch Gesetztes und Wildes, Flapsiges und Bitterernstes. Wir haben es mit neuen, manchmal verwirrenden Paradoxen politischer Kommunikation zu tun. Astrid Séville und Julian Müller setzen sich mit dieser neuen kommunikativen Unübersichtlichkeit auseinander. Politische Redeweisen, so ihre These, müssen heute ganz unterschiedliche Erwartungen auf oft paradoxe Weise miteinander verbinden. Wir sprechen mit ihnen über Versuche, Autorität in einer autoritätsskeptischen Gesellschaft zu beanspruchen, den journalistischen Meinungsmarkt und die Rolle der Sozialwissenschaften dabei.
Erschienen: 09.08.2024
Dauer: 01:26:36
Ob Eltern oder Kinderlose, jeder hat eine starke Meinung, wie eine gute Erziehung auszusehen hat. Schnell sind starke Werturteile bei der Hand: Diese und jene Eltern seien zu streng oder zu nachgiebig, zu ambitionslos oder zu leistungsorientiert. Die einen mahnen vor den verweichlichten Helikoptereltern, die anderen sehen eher in autoritärer Erziehung das Wohl der Kinder gefährdet. Und jede Generation kann, zu recht oder zu unrecht, ihren Eltern vorwerfen, das meiste falsch gemacht zu haben. Aber was lässt sich allgemein über eine gute Kindheit sagen? Ist sie nur Ansichtssache und Privatangelegenheit? Mit unseren Gästen Johannes Drerup und Gottfried Schweiger sprechen wir darüber, was sich aus philosophischer Perspektive über eine gute Kindheit sagen lässt. Den Autoren geht es dabei nicht um die Beschreibung einer idealen und bestmöglichen Kindheit, sondern um einen Minimalstandard für eine hinreichend gute Kindheit, die in verschiedenen Lebensformen verwirklicht werden kann. In der Sendung fragen wir nach der Bedeutung kindlicher Autonomie und kindlicher Abhängigkeit. Wir sprechen über demokratische Erziehung und diskutieren die Verantwortung des Staates gegenüber den Kindheiten seiner Bürger*innen. Angesichts mancher Fundamentalkritik an historisch gewachsenen Einrichtungen wie der Familie, der Schule und der Kindheit selbst plädieren Schweiger und Drerup für einen vorsichtigen Reformismus, der institutionelle Vorteile und Leistungen anerkennt, Missstände wie Armut, Ungleichheit und Gewalt aber klar benennt.
Erschienen: 24.06.2024
Dauer: 01:32:03
An China kommt niemand mehr vorbei: weder wirtschaftlich, noch sicherheitspolitisch, noch ökologisch. Das Land ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und hat keine schlechten Chancen, auch in absehbarer Zeit den ersten Platz einzunehmen. Zugleich ist China mehrdeutig und widersrpüchlich: Mit seiner uralten kulturellen Tradition, seiner hybriden Wirtschaftsweise und seinem Einparteiensystem gibt es westlichen Beobachtern regelmäßig Rätsel auf. In dieser Folge versuchen wir deshalb, das gegenwärtige China aus der langen historischen Linie zu verstehen. Mit unserem Gast, dem Sinologen Felix Wemheuer, sprechen wir über die wechselvolle Geschichte Chinas im 20. und 21. Jahrhundert. Dabei interessieren wir uns für die Besonderheiten des chinesischen Kommunismus unter Mao, die Gründe für die Hungerkatastrophe im "Großen Sprung nach vorn" sowie die gewaltvolle Dynamik der Kulturrevolution. Zudem blicken wir auf die Erfolge und sozialen Verwerfungen der Reformära und landen schließlich in der Gegenwart. Wemheuer berichtet uns über die Lebensformen der neuen chinesischen Mittelschicht und erklärt uns die hartnäckige Herrrschaft der Kommunistischen Partei. Schließlich fragen wir, welche Hoffnungen man mit der chinesischen Zivilgesellschaft verbinden darf. Und wie eigentlich eine progressive Chinapolitik im 21. Jahrhundert aussieht.
Erschienen: 22.04.2024
Dauer: 01:31:19
Weitere Informationen zur Episode "Von Mao bis Xi – mit Felix Wemheuer"
In diesem Herbst finden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen statt – und damit in drei Ländern, in denen mit der AfD eine Partei hohe Zustimmung erhalten könnte, die vom Parlamentarismus und von demokratischen Verfahren nicht viel hält. Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen setzt sich deswegen im „Thüringen-Projekt“ mit der Frage auseinander, welche Optionen die AfD bei einem Wahlerfolg hätte, rechststaatliche Kontrollinstanzen auszuhebeln und das demokratische System dauerhaft zu verändern. Es zeig sich: In vielen Fällen müsste sie dabei nicht mal geltendes Recht brechen. Mit Marie Müller-Elmau und Hannah Beck sprechen wir über die möglichen Szenarien einer rechtspopulistischen Transformation. Dabei werfen wir einen Blick auf Strategien der Obstruktion im Parlament und die Eingriffsrechte im Schulsystem, der Universität oder der Verwaltung. Noch hätten die demokratischen Parteien die Mehrheit für Verfassungsänderungen zum Schutz der Institutionen. Aber auch wenn man den Parlamentarismus rechtlich stärken kann: Letztlich braucht es eine wache Zivilgesellschaft, die sich der autoritären Unterwanderung ihrer Institutionen entgegenstellt, einen "zivilen Verfassungsschutz".
Erschienen: 26.03.2024
Dauer: 01:21:41
Weitere Informationen zur Episode "Das Thüringen-Projekt – mit Marie Müller-Elmau und Hannah Beck"
Im vergangenen Jahr haben die Umweltaktivisten der "Letzten Generation" das Land mit ihren Straßenblockaden scheinbar an den Rande des Nervenzusammenbruchs geführt. Inzwischen hat die Gruppe angekündigt, sich nicht mehr festkleben zu wollen. Doch bleibt sie Symbol für den Konflikt um den politischen Umgang mit dem Klimawandel. Während die einen die Katastrophe schon längst angekommen sehen und endlich einen grundlegenden Politikwechsel fordern, fragen sich die anderen, was das soll: dieses Übertreiben, diese Eskalation auf dem Rücken der "ganz normalen Leute". So zumindest stellt sich der Konflikt öffentlich dar. Aber ist die Gesellschaft wirklich so gespalten? Gibt es zwei große Lager, die sich unversöhnlich gegenüber stehen? Antworten bekommen wir von Linus Westheuser. Er hat zusammen mit Steffen Mau und Thomas Lux im Buch Triggerpunkte eine Kartierung der deutschen Meinungslandschaft vorgelegt. Von ihm erfahren wir, dass die Einstellungen der Bevölkerung deutlich diffuser sind, als es die mediale Zuspitzung oft vermuten lässt. Über vieles herrscht sogar Einigkeit: Fast niemand leugnet den Klimawandel und die Notwendigkeit seiner Bewältigung. Was dagegen triggert, sind Fragen der moralischen Verantwortung und der Lastenverteilung. Hier zeigen sich Gegensätze, die sich in Zukunft noch verstärken könnten. Der Klimawandel – eine "Klassenfrage im Werden"?
Erschienen: 19.02.2024
Dauer: 01:27:02
Weitere Informationen zur Episode "Klimawandel als Klassenfrage im Werden – mit Linus Westheuser"
Wenn ein Mensch alleine stirbt, hinterlässt er für immer ein Rätsel. In welchem Zustand war er in seinen letzten Momenten? Wollte er allein sein oder hätte er Hilfe gebraucht? Ein unbezifferter aber wohl beachtlicher Teil der deutschen Bevölkerung stirbt auf diese Weise. Manche werden erst nach Tagen, Wochen oder sogar Monaten aufgefunden. Welche Lebensbedingungen finden mit einem solchen einsamen Tod ihr Ende? Unser Gast Susanne Loke ist dem Thema in einer großangelegten Studie nachgegangen. In Aachen und Gelsenkirchen hat sie eine Vollerhebung aller unbegleiteten Tode über 10 Jahre durchgeführt, mit erstaunlichem Ergebnis: In den beiden Städten ist etwa jeder fünfte Verstorbene allein gewesen! Anhand des verfügbaren statistischen Materials und einer eigenen intensiven Fallstudie versucht Loke den Ursachen des einsamen Sterbens auf den Grund zu gehen. Dabei porträtiert sie auch an Beispielen die Biografien und Lebensverhältnisse von Betroffenen und verdichtet ihre Befunde zu einem komplexen Erklärungsmodell. Dabei ensteht ein Syndrom sozialen Leids, das in unserer Gesellschaft bisher meist mit Scham, Verdrängung und Schweigen behandelt wird.
Erschienen: 21.01.2024
Dauer: 01:35:34
Weitere Informationen zur Episode "Einsam sterben – mit Susanne Loke"