Feuilleton von unten
Wir diskutieren über das, was uns interessiert: Wie funktioniert Gesellschaft? Was heißt es heute, politisch zu sein? Welches Wissen ordnet unsere Welt? „Feuilleton von unten“ nennen wir das. Das heißt für uns nicht Kulturrundschau und Rezension – Feuilleton verstehen wir als ein öffentliches Nachdenken über Gesellschaft im weitesten Sinne. Dabei versuchen wir, Perspektiven aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zeitdiagnostisch produktiv zu machen.
Hintergründe für den Rechtsruck in westlichen Ländern gibt es viele: wirtschaftliche Transformation, Ab- wie Zuwanderung, fehlende staatliche Daseinsvorsorge. Hört man rechten Populisten zu, scheint all das aber mit besonderer Bedeutung aufgeladen zu sein. Wirtschaftliche Transformation wird zum Irrsinn einer "grünen Elite". Zuwanderung zum "großen Austausch". Die Regierung zum "Totengräber der Nation". Zwei jüngst erschienene Arbeiten setzen sich mit dieser Sinngebung auseinander: Felix Schilks Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten und Florian Spissingers Gefühlsgemeinschaft der AfD. Schilk analysiert in seiner Arbeit anhand von Zeitschriften die immer wiederkehrenden Grundstrukturen konservativer und rechter Erzählungen. Spissinger untersucht an Stammtischen und an Wahlständen, welches positive emotionale Angebot die AfD ihren Anhängern machen kann. Im Gespräch erkunden wir die unauflöslichen Mehrdeutigkeiten und Widersprüche einer Weltanschauung: mal revolutionär, mal bieder, mal schimpfend, mal zum Wohlfühlen, mal apokalyptisch, mal als Kraft des "gesunden Menschensverstandes" und der "natürlichen Ordnung der Dinge". Schließlich diskutieren wir über den richtigen Umgang mit der Rechten und was wehrhafte Demokratie eigentlich bedeuten soll. Wir lernen, dass es keine Mechanismen gibt, die einen Rechtsruck notwendig machen. Es herrscht – wie so oft – radikale historische Offenheit: Nichts ist neu, nichts ist vorbei, alles ist möglich!
Erschienen: 30.08.2024
Dauer: 01:44:15
Wer wahnsinnig genug ist, sich am politischen Diskurs in den sozialen Medien zu beteiligen, begegnet neuen Formen des politischen Sprechens: Aktivisten, die sich staatstragend äußern, als wären sie Bundespräsidenten, verbeamtete Wissenschaftler, die die Revolutionen fordern oder auch subversive Komiker, die ganz unironisch Werbung für die deutsche Polizei machen. Oder doch ironisch? In der politischen Kommunikation scheinen klassische Differenzen zu verschwimmen: Es verbinden sich Affirmatives und Kritisches, rhetorisch Gesetztes und Wildes, Flapsiges und Bitterernstes. Wir haben es mit neuen, manchmal verwirrenden Paradoxen politischer Kommunikation zu tun. Astrid Séville und Julian Müller setzen sich mit dieser neuen kommunikativen Unübersichtlichkeit auseinander. Politische Redeweisen, so ihre These, müssen heute ganz unterschiedliche Erwartungen auf oft paradoxe Weise miteinander verbinden. Wir sprechen mit ihnen über Versuche, Autorität in einer autoritätsskeptischen Gesellschaft zu beanspruchen, den journalistischen Meinungsmarkt und die Rolle der Sozialwissenschaften dabei.
Erschienen: 09.08.2024
Dauer: 01:26:36
Ob Eltern oder Kinderlose, jeder hat eine starke Meinung, wie eine gute Erziehung auszusehen hat. Schnell sind starke Werturteile bei der Hand: Diese und jene Eltern seien zu streng oder zu nachgiebig, zu ambitionslos oder zu leistungsorientiert. Die einen mahnen vor den verweichlichten Helikoptereltern, die anderen sehen eher in autoritärer Erziehung das Wohl der Kinder gefährdet. Und jede Generation kann, zu recht oder zu unrecht, ihren Eltern vorwerfen, das meiste falsch gemacht zu haben. Aber was lässt sich allgemein über eine gute Kindheit sagen? Ist sie nur Ansichtssache und Privatangelegenheit? Mit unseren Gästen Johannes Drerup und Gottfried Schweiger sprechen wir darüber, was sich aus philosophischer Perspektive über eine gute Kindheit sagen lässt. Den Autoren geht es dabei nicht um die Beschreibung einer idealen und bestmöglichen Kindheit, sondern um einen Minimalstandard für eine hinreichend gute Kindheit, die in verschiedenen Lebensformen verwirklicht werden kann. In der Sendung fragen wir nach der Bedeutung kindlicher Autonomie und kindlicher Abhängigkeit. Wir sprechen über demokratische Erziehung und diskutieren die Verantwortung des Staates gegenüber den Kindheiten seiner Bürger*innen. Angesichts mancher Fundamentalkritik an historisch gewachsenen Einrichtungen wie der Familie, der Schule und der Kindheit selbst plädieren Schweiger und Drerup für einen vorsichtigen Reformismus, der institutionelle Vorteile und Leistungen anerkennt, Missstände wie Armut, Ungleichheit und Gewalt aber klar benennt.
Erschienen: 24.06.2024
Dauer: 01:32:03
An China kommt niemand mehr vorbei: weder wirtschaftlich, noch sicherheitspolitisch, noch ökologisch. Das Land ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und hat keine schlechten Chancen, auch in absehbarer Zeit den ersten Platz einzunehmen. Zugleich ist China mehrdeutig und widersrpüchlich: Mit seiner uralten kulturellen Tradition, seiner hybriden Wirtschaftsweise und seinem Einparteiensystem gibt es westlichen Beobachtern regelmäßig Rätsel auf. In dieser Folge versuchen wir deshalb, das gegenwärtige China aus der langen historischen Linie zu verstehen. Mit unserem Gast, dem Sinologen Felix Wemheuer, sprechen wir über die wechselvolle Geschichte Chinas im 20. und 21. Jahrhundert. Dabei interessieren wir uns für die Besonderheiten des chinesischen Kommunismus unter Mao, die Gründe für die Hungerkatastrophe im "Großen Sprung nach vorn" sowie die gewaltvolle Dynamik der Kulturrevolution. Zudem blicken wir auf die Erfolge und sozialen Verwerfungen der Reformära und landen schließlich in der Gegenwart. Wemheuer berichtet uns über die Lebensformen der neuen chinesischen Mittelschicht und erklärt uns die hartnäckige Herrrschaft der Kommunistischen Partei. Schließlich fragen wir, welche Hoffnungen man mit der chinesischen Zivilgesellschaft verbinden darf. Und wie eigentlich eine progressive Chinapolitik im 21. Jahrhundert aussieht.
Erschienen: 22.04.2024
Dauer: 01:31:19
Weitere Informationen zur Episode "Von Mao bis Xi – mit Felix Wemheuer"
In diesem Herbst finden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen statt – und damit in drei Ländern, in denen mit der AfD eine Partei hohe Zustimmung erhalten könnte, die vom Parlamentarismus und von demokratischen Verfahren nicht viel hält. Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen setzt sich deswegen im „Thüringen-Projekt“ mit der Frage auseinander, welche Optionen die AfD bei einem Wahlerfolg hätte, rechststaatliche Kontrollinstanzen auszuhebeln und das demokratische System dauerhaft zu verändern. Es zeig sich: In vielen Fällen müsste sie dabei nicht mal geltendes Recht brechen. Mit Marie Müller-Elmau und Hannah Beck sprechen wir über die möglichen Szenarien einer rechtspopulistischen Transformation. Dabei werfen wir einen Blick auf Strategien der Obstruktion im Parlament und die Eingriffsrechte im Schulsystem, der Universität oder der Verwaltung. Noch hätten die demokratischen Parteien die Mehrheit für Verfassungsänderungen zum Schutz der Institutionen. Aber auch wenn man den Parlamentarismus rechtlich stärken kann: Letztlich braucht es eine wache Zivilgesellschaft, die sich der autoritären Unterwanderung ihrer Institutionen entgegenstellt, einen "zivilen Verfassungsschutz".
Erschienen: 26.03.2024
Dauer: 01:21:41
Weitere Informationen zur Episode "Das Thüringen-Projekt – mit Marie Müller-Elmau und Hannah Beck"
Im vergangenen Jahr haben die Umweltaktivisten der "Letzten Generation" das Land mit ihren Straßenblockaden scheinbar an den Rande des Nervenzusammenbruchs geführt. Inzwischen hat die Gruppe angekündigt, sich nicht mehr festkleben zu wollen. Doch bleibt sie Symbol für den Konflikt um den politischen Umgang mit dem Klimawandel. Während die einen die Katastrophe schon längst angekommen sehen und endlich einen grundlegenden Politikwechsel fordern, fragen sich die anderen, was das soll: dieses Übertreiben, diese Eskalation auf dem Rücken der "ganz normalen Leute". So zumindest stellt sich der Konflikt öffentlich dar. Aber ist die Gesellschaft wirklich so gespalten? Gibt es zwei große Lager, die sich unversöhnlich gegenüber stehen? Antworten bekommen wir von Linus Westheuser. Er hat zusammen mit Steffen Mau und Thomas Lux im Buch Triggerpunkte eine Kartierung der deutschen Meinungslandschaft vorgelegt. Von ihm erfahren wir, dass die Einstellungen der Bevölkerung deutlich diffuser sind, als es die mediale Zuspitzung oft vermuten lässt. Über vieles herrscht sogar Einigkeit: Fast niemand leugnet den Klimawandel und die Notwendigkeit seiner Bewältigung. Was dagegen triggert, sind Fragen der moralischen Verantwortung und der Lastenverteilung. Hier zeigen sich Gegensätze, die sich in Zukunft noch verstärken könnten. Der Klimawandel – eine "Klassenfrage im Werden"?
Erschienen: 19.02.2024
Dauer: 01:27:02
Weitere Informationen zur Episode "Klimawandel als Klassenfrage im Werden – mit Linus Westheuser"
Wenn ein Mensch alleine stirbt, hinterlässt er für immer ein Rätsel. In welchem Zustand war er in seinen letzten Momenten? Wollte er allein sein oder hätte er Hilfe gebraucht? Ein unbezifferter aber wohl beachtlicher Teil der deutschen Bevölkerung stirbt auf diese Weise. Manche werden erst nach Tagen, Wochen oder sogar Monaten aufgefunden. Welche Lebensbedingungen finden mit einem solchen einsamen Tod ihr Ende? Unser Gast Susanne Loke ist dem Thema in einer großangelegten Studie nachgegangen. In Aachen und Gelsenkirchen hat sie eine Vollerhebung aller unbegleiteten Tode über 10 Jahre durchgeführt, mit erstaunlichem Ergebnis: In den beiden Städten ist etwa jeder fünfte Verstorbene allein gewesen! Anhand des verfügbaren statistischen Materials und einer eigenen intensiven Fallstudie versucht Loke den Ursachen des einsamen Sterbens auf den Grund zu gehen. Dabei porträtiert sie auch an Beispielen die Biografien und Lebensverhältnisse von Betroffenen und verdichtet ihre Befunde zu einem komplexen Erklärungsmodell. Dabei ensteht ein Syndrom sozialen Leids, das in unserer Gesellschaft bisher meist mit Scham, Verdrängung und Schweigen behandelt wird.
Erschienen: 21.01.2024
Dauer: 01:35:34
Weitere Informationen zur Episode "Einsam sterben – mit Susanne Loke"
Denkt man an die Krise der Demokratie im Jahre 2023, denkt man an den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. In vielen westlichen Nationen verschieben sie derzeit die Koordinaten des politischen Geschehens. Doch was auffällt: Auch wenn sie die „Altparteien“ herausfordern, auch wenn sie behaupten, dem "reinen Volkswillen" zu seinem Recht zu verhelfen: Parteien bleiben sie doch. Überhaupt scheint es trotz der allseitigen Frustration mit dem politischen System, trotz der Suche nach direktdemokratischen Alternativen in den letzten Jahrzehnten, dass Parteien bis auf weiteres alternativlos bleiben. Was hat es mit dieser politischen Form auf sich? Jasmin Siri fordert eine Soziologie der Partei, die diese weder als gegeben hinnimmt, noch sich in ihrer Kritik erschöpft. In der Sendung sprechen wir mit ihr über die Partei als eine Organisation, die uns systematisch immer wieder enttäuschen muss, an der aber kein Weg vorbeiführt, wenn man Politik soziologisch ernstnimmt.
Erschienen: 20.11.2023
Dauer: 01:20:08
Weitere Informationen zur Episode "Die Alternativlosigkeit der Partei – mit Jasmin Siri"
Vor knapp 30 Jahren endete der Kommunismus als "Weltbewegung". Zurück blieb wenig Anlass für Nostalgie. Bis heute liegt das historische Scheitern der Kommunismen des 20. Jahrhunderts als schwere Hypothek auf allen progressiven Projekten, die eine grundlegend andere Gesellschaftsordnung jenseits der bestehenden imaginieren. Grund genug, wieder einmal zurückzublicken, so illusionslos wie möglich, und sich zu fragen: Was war der Kommunismus? Unser Gast Gerd Koenen arbeitet seit Jahrzehnten an dieser Frage. Mit ihm wagen wir einen Parforceritt durch die Historie. Wir sprechen über die menschheitsgeschichtliche Dimension des Kommunismus und über den großen Bruch, in dem die moderne Welt entstand. Wir fragen ihn nach der Sonderstellung Karl Marx' und nach der Wirklichkeit des Proletariats. Und wir blicken mit ihm auf die kommunistischen Staatsgründungen des 20. Jahrhundert. Was machte den Prototypen, die Partei Lenins, aus und was war der Grund für ihre geistige Abschottung, ihre panische Getriebenheit und monströse Selbstzerfleischung? Für Koenen ist der Kommunismus vorbei, nicht aber die Fragen, die uns seit Anbeginn der modernen Welt umtreiben: Wie umgehen mit dem eigendynamischen und selbst gemachten Zwang der kapitalistischen Verhältnisse? Welche Ansätze einer nächsten Gesellschaft können wir in unserer unübersichtlichen Gegenwart entdecken? Die Fähigkeiten, die Technik, das Weltwissen: Für Koenen ist eigentlich alles schon da, was wir für eine menschlichere Zukunft bräuchten.
Erschienen: 23.10.2023
Dauer: 01:31:05
Weitere Informationen zur Episode "Der Kommunismus und wir – mit Gerd Koenen"
Gewerkschaften gehören zu den ältesten Interessenorganisationen der Arbeiter*innenbewegung. Sie stehen im Zentrum der Geschichte moderner Industriegesellschaften. Seit den Krisen der 1970er Jahre, mit den Stichworten Deindustrialisierung und schließlich Neoliberalismus, stand ihre Entwicklung lange unter einem negativen Zeichen. Sie schienen, ob nun veraltet oder mutwillig zerstört, der Vergangenheit anzugehören. Seit einigen Jahren hat sich das geändert. Man redet von einer Renaissance der Gewerkschaften. Gleichzeitig gibt es eine Reihe von Herausforderungen: ob Klimawandel und die durch den Ukraine-Krieg beschleunigte Energiewende, die sozialstrukturelle Pluralisierung der Gesellschaft und der Verlust klassischer Arbeitermilieus, schließlich das Erstarken der AfD, die den 'deutschen Industriearbeiters' als moralische Größe für sich zu reklamieren sucht. Unseren Gast Wolfgang Schroeder fragen wir, wie die deutschen Gewerkschaften darauf reagieren. Mit ihm reden wir über zentrale gewerkschaftliche Entwicklungen wie den Verlust lebensweltlicher Verankerung, organisationale Professionalisierung und gleichzeitige Verweiblichung sowie die Öffnung für neue Gruppen. Dabei entdecken wir die Pluralität der gewerkschaftlichen Basis: von stark organisierten Industriearbeitern in großen Unternehmen bis zu kaum organisierten prekären Dienstleistungsbetrieben. Schließlich fragen wir nach der ambivalenten Rolle der Gewerkschaften in der ökologischen Transformation und nach der Gefahr rechter Unterwanderung.
Erschienen: 21.09.2023
Dauer: 01:26:59
Weitere Informationen zur Episode "State of the Trade Union – mit Wolfgang Schroeder"