Feuilleton von unten
Wir diskutieren über das, was uns interessiert: Wie funktioniert Gesellschaft? Was heißt es heute, politisch zu sein? Welches Wissen ordnet unsere Welt? „Feuilleton von unten“ nennen wir das. Das heißt für uns nicht Kulturrundschau und Rezension – Feuilleton verstehen wir als ein öffentliches Nachdenken über Gesellschaft im weitesten Sinne. Dabei versuchen wir, Perspektiven aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zeitdiagnostisch produktiv zu machen.
Denkt man an die Krise der Demokratie im Jahre 2023, denkt man an den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. In vielen westlichen Nationen verschieben sie derzeit die Koordinaten des politischen Geschehens. Doch was auffällt: Auch wenn sie die „Altparteien“ herausfordern, auch wenn sie behaupten, dem "reinen Volkswillen" zu seinem Recht zu verhelfen: Parteien bleiben sie doch. Überhaupt scheint es trotz der allseitigen Frustration mit dem politischen System, trotz der Suche nach direktdemokratischen Alternativen in den letzten Jahrzehnten, dass Parteien bis auf weiteres alternativlos bleiben. Was hat es mit dieser politischen Form auf sich? Jasmin Siri fordert eine Soziologie der Partei, die diese weder als gegeben hinnimmt, noch sich in ihrer Kritik erschöpft. In der Sendung sprechen wir mit ihr über die Partei als eine Organisation, die uns systematisch immer wieder enttäuschen muss, an der aber kein Weg vorbeiführt, wenn man Politik soziologisch ernstnimmt.
Erschienen: 20.11.2023
Dauer: 01:20:08
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Vor knapp 30 Jahren endete der Kommunismus als "Weltbewegung". Zurück blieb wenig Anlass für Nostalgie. Bis heute liegt das historische Scheitern der Kommunismen des 20. Jahrhunderts als schwere Hypothek auf allen progressiven Projekten, die eine grundlegend andere Gesellschaftsordnung jenseits der bestehenden imaginieren. Grund genug, wieder einmal zurückzublicken, so illusionslos wie möglich, und sich zu fragen: Was war der Kommunismus? Unser Gast Gerd Koenen arbeitet seit Jahrzehnten an dieser Frage. Mit ihm wagen wir einen Parforceritt durch die Historie. Wir sprechen über die menschheitsgeschichtliche Dimension des Kommunismus und über den großen Bruch, in dem die moderne Welt entstand. Wir fragen ihn nach der Sonderstellung Karl Marx' und nach der Wirklichkeit des Proletariats. Und wir blicken mit ihm auf die kommunistischen Staatsgründungen des 20. Jahrhundert. Was machte den Prototypen, die Partei Lenins, aus und was war der Grund für ihre geistige Abschottung, ihre panische Getriebenheit und monströse Selbstzerfleischung? Für Koenen ist der Kommunismus vorbei, nicht aber die Fragen, die uns seit Anbeginn der modernen Welt umtreiben: Wie umgehen mit dem eigendynamischen und selbst gemachten Zwang der kapitalistischen Verhältnisse? Welche Ansätze einer nächsten Gesellschaft können wir in unserer unübersichtlichen Gegenwart entdecken? Die Fähigkeiten, die Technik, das Weltwissen: Für Koenen ist eigentlich alles schon da, was wir für eine menschlichere Zukunft bräuchten.
Erschienen: 23.10.2023
Dauer: 01:31:05
Weitere Informationen zur Episode "Der Kommunismus und wir – mit Gerd Koenen"
Gewerkschaften gehören zu den ältesten Interessenorganisationen der Arbeiter*innenbewegung. Sie stehen im Zentrum der Geschichte moderner Industriegesellschaften. Seit den Krisen der 1970er Jahre, mit den Stichworten Deindustrialisierung und schließlich Neoliberalismus, stand ihre Entwicklung lange unter einem negativen Zeichen. Sie schienen, ob nun veraltet oder mutwillig zerstört, der Vergangenheit anzugehören. Seit einigen Jahren hat sich das geändert. Man redet von einer Renaissance der Gewerkschaften. Gleichzeitig gibt es eine Reihe von Herausforderungen: ob Klimawandel und die durch den Ukraine-Krieg beschleunigte Energiewende, die sozialstrukturelle Pluralisierung der Gesellschaft und der Verlust klassischer Arbeitermilieus, schließlich das Erstarken der AfD, die den 'deutschen Industriearbeiters' als moralische Größe für sich zu reklamieren sucht. Unseren Gast Wolfgang Schroeder fragen wir, wie die deutschen Gewerkschaften darauf reagieren. Mit ihm reden wir über zentrale gewerkschaftliche Entwicklungen wie den Verlust lebensweltlicher Verankerung, organisationale Professionalisierung und gleichzeitige Verweiblichung sowie die Öffnung für neue Gruppen. Dabei entdecken wir die Pluralität der gewerkschaftlichen Basis: von stark organisierten Industriearbeitern in großen Unternehmen bis zu kaum organisierten prekären Dienstleistungsbetrieben. Schließlich fragen wir nach der ambivalenten Rolle der Gewerkschaften in der ökologischen Transformation und nach der Gefahr rechter Unterwanderung.
Erschienen: 21.09.2023
Dauer: 01:26:59
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Die deutsche Soziologie versteht sich üblicherweise als Wissenschaft der modernen Gesellschaft. Französische und Industrielle Revolution bilden die historischen Wendepunkte. Was davor passiert ist, das interessiert kaum und ist nur in Klischees bekannt. Damit ist die Soziologie nicht allein, sondern ganz im Einklang mit populären Vorstellungen. 1000 Jahre europäische Geschichte werden auf wenige Bilder, auf die Standespyramide, Ritterrüstungen und den Schmutz in den Straßen eingedampft. Zwar können Archäologie und Mediävistik ein anderes, komplexeres Bild zeichnen. Aber wie das immer so ist: Wenn man nicht Teil des Faches ist oder es gute journalistische Beiträge gibt, ist es schwer, einen Einblick zu bekommen. Andrej Pfeiffer-Perkuhn hat sich zur Mission gemacht hat, das Bild vom Mittelalter zu korrigieren. Auf seinem YouTube-Kanal "Geschichtsfenster" spricht er über den mittelalterlichen Alltag, kocht mittelalterliche Gerichte nach oder regt sich über schlechte Dokumentationen auf. Dabei ist er weder Journalist noch Wissenschaftler. Sein Projekt ist aus einem Hobby entstanden, und doch – oder gerade deswegen – erreicht er mittlerweile weit mehr Leute als professionelle Player wie Museen oder wissenschaftliche Institute. Was ist sein Anspruch, und was sind seine Erfahrungen? Was macht er richtig – und die Wissenschaft falsch?
Erschienen: 12.07.2023
Dauer: 01:19:53
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Die Verhältnisse sind schlecht – und sie sind kompliziert. Wie Überfluss und Mangel, Macht und Abhängigkeit, Reichtum und Not zusammenhängen, ist nicht immer klar zu erkennen. Wir ahnen aber, dass das Elend dieser Welt nicht unverbunden mit uns ist. Und trotzdem leben wir in unserem Alltag oft unbeschwert von dieser Ahnung oder haben schlicht unsere eigenen Probleme. Warum ist das so? Für die Philosophin Henrike Kohpeiß ist dieser Zustand durch eine bestimmte Subjektivität und Gefühlslage zu erklären, die sie "bürgerliche Kälte" nennt. Damit beschreibt sie eine affektive Technik, mit der Bürgerinnen und Bürger sich vor dem vollen Ausmaß der Gewaltverhältnisse schützen, von denen sie selbst profitieren. Kohpeiß rekonstruiert diese Subjektivität und formuliert im Rückgriff auf die Kritische Theorie und die Black Studies eine radikale Kritik des westlichen Selbstbilds. Im Gespräch nähern wir uns Kohpeiß' dialektischem Zugang zum Gegenstand und ihren bewusst unterbestimmten Grundbegriffen an. Wir diskutieren über die Ohnmacht gegenüber Staat und Bürokratie, über die konstitutive Rolle des Rassismus für den europäischen Rationalismus und darüber, ob die Aufklärung noch zu retten ist.
Erschienen: 27.04.2023
Dauer: 01:36:53
Weitere Informationen zur Episode "Bürgerliche Kälte – mit Henrike Kohpeiß"
Ob in der Klimakrise, der Corona-Pandemie oder im US-Wahlkampf: In den vergangenen Jahren haben wir uns angewöhnt, politische Konflikte als Auseinandersetzungen über Faktenlagen zu beschreiben. Eine Gruppe, die den Fakten vertraut, steht einer anderen gegenüber, die diese leugnet. Manche Beobachter haben daraus den Schluss gezogen, dass wir in postfaktischen Zeiten leben. Nils C. Kumkar möchte dem nicht so recht folgen. Der Soziologe hat untersucht, was genau passiert, wenn Klimaskeptiker, Trump-Anhänger oder Querdenker etabliertes Wissen in Frage stellen. Sein Ergebnis: sogenannte "alternative Fakten" sind eigentlich keine Fakten. Stattdessen ähneln sie kommunikativen Nebelkerzen, die verschleiern, worum es in der Diskussion eigentlich geht: um handfeste soziale Konflikte. Was ist das für eine Gesellschaft, deren Wahrheit medial präsenter ist als je zuvor, die aber gleichzeitig so sehr mit sich selbst ringt?
Erschienen: 27.03.2023
Dauer: 01:48:00
Weitere Informationen zur Episode "Alternative Fakten - mit Nils C. Kumkar"
In der Klimakrise gibt es zwei Grundpositionen: Die einen wollen den Klimaschutz innerhalb der bestehenden politisch-wirtschaftlichen Ordnung verwirklichen. Die Wirtschaft soll sich entwickeln wie gehabt und weiterwachsen können – nur eben ohne die Verbrennung fossiler Energieträger. Die anderen sind skeptisch, ob es ein solches ‚grünes Wachstum‘ wirklich geben kann. Zu letzteren gehört Ulrike Herrmann. Für sie ist der Kapitalismus eine Spirale von Krediten und industrieller Produktion. Kapitalistische Gesellschaften können wachsen oder krisenhaft schrumpfen, aber stagnieren können sie nicht. Dieser Wachstumszwang lässt sich für Herrmann nicht von dessen ökologischen Folgen entkoppeln. Wer den Klimawandel stoppen will, muss aus dem Kapitalismus aussteigen. In ihrem neuen Buch „Das Ende des Kapitalismus“ denkt Herrmann darüber nach, wie das ohne Katastrophe möglich ist. Mit ihr sprechen wir über Maschinen und Lohnkosten, mangelnde Ökoenergie und ihren Plan für die Postwachstumsökonomie: eine private Planwirtschaft nach Vorbild der britischen Kriegswirtschaft im 2. Weltkrieg.
Erschienen: 28.02.2023
Dauer: 01:25:21
Weitere Informationen zur Episode "Mit Ulrike Herrmann über das Ende des Kapitalismus"
Der Spießer ist geistlos, geschmacklos, engstirnig, ängstlich und ahnungslos. Kein Wunder also, dass niemand einer sein möchte. Der Spießer, das sind die anderen, von denen man sich abgrenzt. Und das nicht erst seit gestern, sondern mindestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Soziolog*innen Dominik Schrage und Sonja Engel haben dieser eingentümlichen Beschimpfung ein Buch gewidmet. Für sie ist das Spießerverdikt ein kommunikatives Muster, das trotz eines immer wieder erweiterten Repertoires von negativen Eigenschaften relativ stabil geblieben ist. In ihrer Diskursanalyse verfolgen die beiden diese besondere Art der Herabsetzung von der romantischen Spießersatire über die marxistische Kleinbürgerschelte bis zur bohémistischen Bürgerkritik. Auch in der Gegenkultur der 1960er und 70er-Jahre und in der reaktionären "Gutmenschen"-Verachtung der Gegenwart wiederholen sich ähnliche Logiken. Die Sozialfigur des Spießers erweist sich dabei als ein politisch flexibles Werkzeug der Abwertung. Es richtet sich immer gegen eine gesellschaftliche "Mitte", mit der etwas nicht stimmt - und die eine andere werden soll.
Erschienen: 27.01.2023
Dauer: 01:48:18
Weitere Informationen zur Episode "Spießer! – mit Sonja Engel und Dominik Schrage"
Leben auf der Straße bedeutet nicht nur, keine Wohnung zu haben, sondern in vielen Hinsichten ein ganz anderes Leben abseits der Gesellschaft. Dabei werden die Betroffenen oft für ihre Obdachlosigkeit verantwortlich gemacht und zu unerwünschten Personen im Stadtleben erklärt. Ihre subjetkiven Perspektiven und pluralen Lebensgeschichten bleiben unsichtbar. Luisa Schneider ist Anthropologin und hat in einer jahrelangen Feldforschung in Leipzig mit knapp 300 Obdachlosen Kontakt gehabt. Dabei hat sie versucht, sie wirklich zu verstehen. Mit ihr begeben wir uns in die Lebenswelt der Obdachlosigkeit, sprechen über die Organisation eines Alltags ohne Haus, die schiefe Logik des zeitgenössischen Sozialstaats und warum Gefängnis wie Urlaub sein kann.
Erschienen: 05.12.2022
Dauer: 01:29:55
Weitere Informationen zur Episode "Mit Luisa Schneider über Leben auf der Straße"
Erschienen: 02.11.2022
Dauer: 01:25:56
Weitere Informationen zur Episode "Die Wirksamkeit des Wissens – mit Frieder Vogelmann"